Einige Wochen nach Pauls Outing leidet Julia zunehmend unter der Tatsache, dass sie mit niemandem über ihr Geheimnis sprechen kann ...
...und beschreibt ihre Gefühle in dem Kapitel
Wo bitte geht`s zum „goldenen Mittelweg“?
Unser Wochenende rückte näher und ich wurde krank – eine Erkältung war im Anmarsch und meine Reibeisenstimme an diesem Morgen höchst erotisch. „Steck`mich bloß nicht an“ bekam ich auch gleich von Paul zu hören. „Meinst Du, ich hab` mir das ausgesucht? Dann müssen wir Ginas Wochenende eben verschieben!“ Ich fand seine Bemerkung absolut überflüssig, da ich mich selbst schon genug ärgerte.
Gestern hatte ich mich in der Apotheke schon mit allen möglichen Medikamenten ausgestattet, ein Erkältungsbad genommen und war danach ohne Umwege ins warme Bett gekrochen. „Soll ich Dir noch irgendeine Medizin besorgen?“ bot er mir an. „Ich habe alles, was ich brauche, Danke!“ Da wir uns am Abend nicht mehr gesprochen hatten, berichtete ich ihm von meiner Recherche im Internet zu den Führungen über die Reeperbahn mit Olivia Jones.
...
„Lass` uns doch jetzt erst mal unser Wochenende machen. Alles andere ist mir gerade zu viel.“ Das hatte gesessen! Beleidigt zog ich mich ins Bad zurück. Alles was ich einbrachte, bemüht um alte, lieb gewonnene Gewohnheiten - und dazu gehörten für mich nun mal unsere Kurztrips - wurde erst mal weit weg geschoben.
„Was ist denn? Warum bist Du denn so komisch?“ Paul schien wirklich nichts zu verstehen. Ich schleuderte ihm meine ganze ohnmächtige Wut ins Gesicht, als er wieder wissen wollte, was los ist. „Ich werde mich schon daran gewöhnen, dass es keine Pläne mehr gibt für Kurztrips, Urlaube und so weiter. Ich werde mich an alles gewöhnen. Ist alles gar kein Problem. Und jetzt muss ich los!“ Ein knappes, aggressives „Tschüss“ von mir und ich trat die Flucht nach vorn an. Hektisch schnappte ich meinen Mantel und rannte davon. Es schmerzte nicht so sehr das Haus im Streit zu verlassen wie das Gefühl, von nun an - wahrscheinlich für immer und ewig - hinten anzustehen. Es sei denn, ich würde die Konsequenz einer Trennung in Betracht ziehen. Was für mich keinesfalls in Frage kam. Ich liebte meinen Mann und ich wollte im Prinzip nur, das alles so blieb wie es war. Aber war das nicht eine seltsame Symbiose? Würde dieses Geheimnis ausreichen, uns einander näher zu bringen? Oder fühlte er sich mir gegenüber weiterhin schuldig, weil er mich jetzt zur Mitwisserin gemacht hatte?
Das schlimmste jedoch war die Einsamkeit – meine Einsamkeit. Ich fühlte mich so schrecklich allein an diesem Morgen und war zugleich erschrocken über die Wut, die mich gepackt hatte. Im Auto schrie ich diese Wut durch das offene Fenster nach draußen in die eiskalte Winterlandschaft „Ist ja alles gar kein Problem“ – meiner Stimme würde das den Rest geben. Aber es würde doch zu meiner Situation passen, wenn ich keinen Ton mehr herauskriegte. Ich fühlte mich wie in Gefangenschaft und wünschte mir so sehr jemanden, mit dem ich sprechen konnte – aber die Konsequenzen ließen sich nicht überblicken. Was blieb also übrig? Schweigen und akzeptieren. Das akzeptieren war nicht das Problem. Sonst hätte ich meinem Mann gestern von meinem Streifzug durch die Drogerie wohl kaum eine Feinstrumpfhose und den knallroten Nagellack mitgebracht, den er sich gewünscht hatte. Das Problem an der ganzen Sache war das Schweigen und ich hoffte, daran nicht zu ersticken.
Auf dem Weg ins Büro schlenderte ich mit tränenverschleiertem Blick durch den Park und dachte ` Die Enten hatten es gut. Sie konnten miteinander kommunizieren. Über alles`. Ich leider nicht. Obwohl es mir durch die Erkältung nicht so hundertprozentig ging, freute ich mich doch auf acht Stunden Ablenkung an meinem Arbeitsplatz.
Wir mussten den für uns richtigen Mittelweg finden. Doch wie der auszusehen hatte, konnte ich noch nicht mal sagen. Viele Leute aus dem Forum im Internet hatten mir geraten, klare Regeln aufzustellen und meine Grenzen zu formulieren.
Ich sollte - ja ich müsste - meinem Mann unbedingt sagen, was ging und was nicht. Das hörte sich alles in der Theorie ganz toll an. Aber wenn ich dann mal „Stop!“ sagte, krochen direkt danach die Schuldgefühle in mir hoch. Schuldgefühle, dass ich ihn nicht so sein ließ, wie Paul es brauchte. Wer fragte in diesen Tagen eigentlich danach, was ich brauchte?